Wir hören die Schlange, bevor wir sie sehen. Ein Zischen, ein leises Fauchen zu unseren Füßen. „Schau“, Mathias zeigt auf den Boden, wo sich zwischen braunen trockenen Grashalmen, Schneeresten und Steinen etwas bewegt. „Eine Kreuzotter“, informiert er mich, was allerdings nicht nötig gewesen wäre, denn die charakteristische Zeichnung auf ihrem Körper ist nicht fehl zu interpretieren. Ich weiß nicht besonders viel über Schlangen im Allgemeinen oder Kreuzottern im Speziellen, aber ich weiß, dass sie zu den wenigen giftigen Schlangen in unseren Breitengraden zählen. Deshalb ist mir gerade auch alles andere als wohl dabei, wie Mathias sich dem Tier nähert, um ein paar Filmaufnahmen zu machen.
Es ist einer dieser wunderbaren sonnigen Apriltage, wie wir sie dieses Jahr häufig erleben. Als solle man entschädigt werden für Ausgangssperre, Kontaktverbot und soziale Distanzierung. Wenn du schon daheim sitzen musst, dann wenigstens bei schönem Wetter – so ähnlich könnte man es interpretieren. Nur dass ich bei schönem Wetter noch viel weniger zuhause sein kann, als bei Regen, und Mathias deshalb zu einer Wanderung im Nachbartal genötigt habe. „Lass uns die Geier besuchen“, schlug ich heute beim Frühstück vor, ganz die ahnungslose Neu-Bergbewohnerin, die „Zuagroaste“, wie die Einheimischen, die „Doasign“, sagen würden. Die Geier leben im Krumltal, einem Seitental des Raurisertals, durch das man – gute Kondition, entsprechende Ausrüstung und ausreichend Zeit vorausgesetzt – theoretisch bis zum Großglockner wandern kann. Es ist Teil des Nationalparks Hohe Tauern, ein enges Tal mit steilen Hängen rechts und links, an deren Fuß noch die Lawinenreste des Winters träge in der Sonne schwitzen. Oben an den Hängen kreisen Steinadler und Bartgeier, durch deren erfolgreiche Wiederansiedlung das Krumltal bekannt geworden ist. Einen wildschönen Ort haben sich die Greifvögel ausgesucht. Völlige Ruhe, von den Felswänden stürzen jetzt im Frühjahr hohe Wasserfälle herab, unten am Talboden gluckert der Krumlbach.
Womit ich, verwöhnt von viel Sonne und frühsommerlichen Temperaturen von fast 20 Grad, nicht gerechnet habe: Im engen Krumltal liegt noch Schnee. Ziemlich viel Schnee sogar. So viel Schnee, dass ich, je weiter wir ins Tal hinein gingen, immer wieder bis zum Knie einsank. Bald waren unsere Schuhe und Hosen durchnässt und statt, wie in meiner Vorstellung beim Frühstück, gemütlich zu wandern, stapften wir schwitzend durch den Tiefschnee bergauf. Natürlich zieht sich der Wanderweg auf der Seite des Tales entlang, wo weniger Sonne hinkommt und ich schielte immer wieder sehnsüchtig aufs jenseitige Bachufer, wo die Schneemassen größtenteils schon geschmolzen waren. An einer schrottigen Holzbrücke – eigentlich ein wackeliges Brett mit Seil – konnten wir endlich die Seite wechseln und Mathias balancierte elegant und behände in die Sonne, ich folgte nicht ganz so elegant.
Viel weiter kommen wir an diesem Tag nicht ins Krumltal hinein. Aber wir vergammeln den Nachmittag am Berghang in der Sonne, genießen die Ruhe und halten vergeblich Ausschau nach Geiern und Adlern.
Stattdessen ist uns jetzt diese Kreuzotter in den Weg geschlängelt. Während ich das zischende Tier, das klingt wie ein Platten im Hinterreifen, der Alptraum jedes Rennradfahrenden, vorsichtig und in respektvollem Abstand begutachte, wagt Mathias sich für meinen Geschmack viel zu weit vor. „Sei vorsichtig“ und „Geh nicht so nah ran“, sage ich immer wieder und klinge wie unsere Mütter in Personalunion. Vermutlich ist die Schlange jedoch ebenso erleichtert wie ich, als Mathias seine Dreharbeiten beendet hat, und kriecht flott von dannen.
„Geier wären mir lieber gewesen – und ohne Schnee“, grummele ich auf dem Rückweg und wir beschließen, im Sommer noch einmal her zu kommen. Die „Zuagroaste“ hat heute jedenfalls viel dazu gelernt.